Die „Individuelle Kundenansprache“ hat sich zum geflügelten Wort für Unternehmen entwickelt. Gleichzeitig handelt es sich um eine der größten Herausforderungen. Denn oft sind es Millionen von Kunden mit verschiedenen Produkten, ganz unterschiedlicher Historie und varierendem Kundenwert, die es zur richtigen Zeit über den richtigen Kanal mit den richtigen Angeboten zu adressieren gilt.
Einer unserer Kunden, eine Vertriebsgesellschaft für den Energiesektor, kann davon ein Lied singen. Zunächst hat das Unternehmen eine klassische Kundensegmentierung auf Basis eines verhaltensbezogenen Scoring-Modells genutzt. Das heißt: Der Kundenwert wurde anhand von Eckdaten wie dem Verbrauch, Vertragslaufzeiten und Zahlungsverhalten berechnet. Dabei wurde jeder Kunde in ein Punktesystem eingeordnet und erhielt im Anschluss spezifische Angebote. Ausschließlich kunden- und vertragsbezogene Werte aus der Vergangenheit kamen zum Einsatz Diese wurden über eine Datenbank – die sogenannte Customer Analytics Platform – bereitgestellt.
Dieses alte Vorgehen wies diverse Nachteile auf, wie z.B.
- Die Erträge fehlten, sodass profitable Kunden kaum von nicht profitablen zu unterscheiden waren
- Marketing- und Sales-Kampagnen ließen sich nicht gut steuern
- Das Angebot konnte nicht um neue Produkte (Photovoltaik, Smart Home) erweitert werden
Daher haben wir ein ganzheitliches Modell für den Kundenwert aufgesetzt, das nicht nur eine übergreifende Betrachtung der verschiedenen Produktfelder ermöglicht. Vielmehr lassen sich durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) die Chance und Risiken für jeden Kunden individuell abschätzen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der fachlich sehr komplexen Aufgabenstellung ein verhältnismäßig einfacher, technischer Aufbau zugrunde liegt.
Schauen wir uns die neue Lösung also mal genauer an:
- Zielsetzung der Lösung
- Zusammensetzung Kundenwert
- Modell für den Kundenwert in der Praxis
- Handlungsempfehlungen für Mitarbeiter
- Technischer Aufbau der Lösung
1. Zielsetzungen der Lösung
Im Vorfeld hatte unser Kunde bereits verschiedene Zielsetzungen für seine neue Lösung ausformuliert:
- Steuerung des Geschäftes über die verschiedenen Produktsparten hinweg
- Potenziale in den Geschäftsbereichen aufdecken und Investmententscheidungen unterstützen
- Effizientere Verteilung von Marketing- und Sales-Budgets
- Kundensegmentierung verfeinern
- Gewonnene Erkenntnisse für das tägliche Geschäft nutzbar machen
Vor diesem Hintergrund berechnet das Modell den Wert jedes Kunden – inklusive möglicher Entwicklungspotenziale – einmal pro Woche automatisch und stellt ihn für weitere Analysen zur Verfügung. Abgebildet wird ein Zeitraum über die nächsten vier Jahre. Der Erfolg lässt sich je nach Zielsetzung quantitativ überprüfen und messen.
2. Zusammensetzung Kundenwert
Das Kundenwertmodell kombiniert vorhandene Daten aus verschiedenen Systemen – wie SAP ISU, CRM, Kampagnensteuerungssystem und manuellen Planwerten –, die mit Hilfe von KI weiter angereichert und aufbereitet werden. Dabei unterteilt sich die Berechnung des jeweiligen Kundenwertes in drei Komponenten (Abb. 1):
- zukünftige Roherträge
- erwartete Vertriebskosten
- mögliche Potenziale
Roherträge bezeichnen die erwarteten Gewinne, die ein Kunden über alle Vertrags- und Produktklassen hinweg einspielt. Je nach Produkt handelt es sich um eine sehr komplexe Berechnung, da viele bewegliche und schwer zu bewertende Faktoren einfließen können. Im Fall von Stromverträgen müssen beispielsweise Verbräuche des Kunden, Stromeinkaufspreise sowie Netzentgelte vorhergesagt und vom Kundenumsatz abgezogen werden. Auch die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Kunde den Stromversorger im Laufe der folgenden vier Jahre wechselt, gilt es zu berücksichtigen. Um in diesem Kontext möglichst zuverlässige Vorhersagen treffen zu können, kommen Machine Learning Verfahren zum Einsatz, die auf Basis der Historie und Stammdaten des Kunden trainiert werden.
Vertriebskosten sind für eine Vertriebsgesellschaft natürlich besonders relevant. Sie unterteilen sich in Kosten für Akquise, Service, Kampagnen sowie das Forderungsmanagement. Die Akquisekosten beziehen sich auf Provisionen und Bonuszahlungen für Neukunden. Je nach Vertriebspartner und Angebot sind diese festgelegt. Indes setzen sich die Servicekosten aus der Kundenbetreuung sowie der Abrechnung zusammen, wobei vor allem der Betreuungsaufwand je nach Kunde variiert – heißt: Kunden, die häufiger das Call Center beanspruchen, erzeugen auch höhere Kosten. Ebenfalls kundenindividuell sind die Kosten, die Marketing und Vertrieb in Kampagnen investieren. Hier stellt sich die Frage, ob die richtigen Kunden mit einer Kampagne erreicht werden. Und auch die Kosten für das Forderungsmanagement sind von Kunde zu Kunde variabel. Sie umfassen Mahnungen und Forderungsausfälle.
Potenziale zeigen auf, in wie weit Kunden für andere Produkte im Portfolio zu interessieren sind. Auch hier kommt KI mit maschinellem Lernen zum Einsatz. Im Kern geht es darum, potenzielle Kandidaten für ein Up- oder Cross-Selling anhand der Eigenschaften von bereits bestehenden Kunden des betreffenden Produktes zu identifizieren bzw. vorherzusagen. Das Ganze folgt also dem Prinzip, dass Kunden mit ähnlichen Eigenschaften auch für ähnliche Produkte affin sind.
3. Modell für den Kundenwert in der Praxis
Die im Kundenwertmodell gebündelten Informationen sowie die resultierenden Analysen und Erkenntnisse leisten in diversen Unternehmensbereichen gewinnbringende Unterstützung. Dabei reicht das Spektrum von Analysen zu Produkten und Kunden bis hin zum operativen Tagesgeschäft.
Bei den Produkt- und Kundenanalysen werden die Kundenwertdaten über visuelle Analysewerkzeuge mit den vergangenheitsbezogenen Stammdaten aus der Customer Analytics Platform verknüpft. Fragestellungen können in diesem Zusammenhang sein:
- In welchen Regionen liegt das größte Potenzial?
- Welche Produktgruppen verursachen die größten variablen Kosten?
- Hat das Alter meiner Kunden eine Auswirkung auf deren Wertigkeit?
Durch die wöchentliche Neuberechnung lässt sich zudem beobachten, wie sich der Kundenwert über die Zeit hinweg entwickelt. Dies wiederrum ermöglicht eine Schlussfolgerung darüber, ob Maßnahmen wie Preisanpassungen oder In- und Outbound-Aktivitäten die gewünschten Effekte erzielen. Mitunter werden die Ergebnisse von Kampagnen sogar direkt messbar, etwa wenn sich nach einer erfolgreichen Aktion mit hoher Konversionsrate die Potenziale im Kundenwertmodell in den Bereich der Roherträge verlagern. Daneben ist das Kundenwertmodell der Ausgangspunkt für eine tiefergehende Segmentierung. Hierbei werden die Kunden nach historischen Erträgen sowie künftigen Wertbeiträgen und Potenzialen gruppiert. Daraus ergeben sich dann gruppenspezifische Handlungsempfehlungen. So können Kundengruppen mit geringem Wertbeitrag in der Vergangenheit und zugleich großen Potenzialen in der Zukunft interessante Kandidaten für Cross-Selling-Maßnahmen sein.
Im Weiteren bietet das Kundenwertmodell viele Möglichkeiten, um Analysen direkt in das operative Tagesgeschäft einzubringen. Ein Anwendungsgebiet ist die Selektion in Vertriebskampagnen: Aufgrund von prognostizierten Affinitäten können die Nutzer jene Kunden mit dem vermutlich größten Interesse an einem bestimmten Produkt individuell auswählen. Ähnliches gilt für das Churn Management: Auf Basis von verfügbaren Kundeninformation etwa zu Produkt, Vertragslaufzeit oder Zahlungs- und Kontaktverhalten können mit Machine Learning kündigungsgefährdete Kunden identifiziert werden. Sprich: Anhand des Modells lässt sich nachvollziehen, welche Merkmale ein Kunde aufweist, der mit hoher Wahrscheinlichkeit kündigen wird.
4. Handlungsempfehlungen für Mitarbeiter
Einen besonderen Nutzen bietet die Lösung den Mitarbeitern mit direktem Kundenkontakt, wie zum Beispiel Call Center Agents. Im Gespräch werden für jeden Kunden automatisch sogenannte Next-Best-Activities (NBAs) erzeugt – sprich: konkrete Empfehlungen für den Mitarbeiter, wie er den Kunden gezielt unterstützen und/oder weiterentwickeln kann. Zu diesem Zweck werden die Potenziale, Kostenstrukturen und Erträge aus dem Kundenwertmodell herangezogen. Weitere NBAs beruhen auf den Stammdaten der Customer Analytics Plattform.
Die NBAs zeichnen also ein zusammenhängendes Bild, auf dessen Grundlage der Kunde individuell beraten werden kann. Dem Mitarbeiter wird dadurch die Kommunikation deutlich erleichtert. Er hat einen vollständigen Aktionsplan vor Augen, dem er strukturiert folgen kann. Wiederholungen werden vermieden, da bereits getätigte Empfehlungen vom jeweiligen Bearbeiter hinterlegt werden. So zeigt sich auch der Kunde im Regelfall zufrieden. Er fühlt sich durch die Angebote persönlich angesprochen und individuell betreut.
5. Technischer Aufbau der Lösung
Der vielfältige Nutzen und die fachlichen Herausforderungen des Projektes legen nahe, dass sich dahinter ein komplexer, technischer Aufbau verbirgt. Tatsächlich ist die Lösung aber verhältnismäßig einfach gehalten (Abb. 2). Die gesamte Datenhaltung sowie ein Großteil der Datenverarbeitung erfolgt auf lokalen Ressourcen, wobei wir die beim Kunden bestehende Infrastruktur aus SQL Server und Datenbanken erhalten haben. Für das Training des Machine-Learning-Modells und die Erstellung der Prognosen haben wir indes einen separaten Server mit größeren Mengen an Arbeitsspeicher und CPUs bereitgestellt, um Lastprobleme auf dem Datenbankserver zu umgehen.
Besonders bemerkenswert ist sicherlich, dass wir trotz der vielschichtigen Anforderungen auf Cloud-Services verzichtet haben. Den Ausschlag hierfür geben die genutzten Datenmengen, die durchaus noch mit lokalen Ressourcen zu bewältigen sind. Allerdings ist die Lösung so ausgelegt, dass sie grundsätzlich auch auf einer Cloud-Plattform betrieben und somit relativ einfach überführt werden könnte. Bei der Entwicklung der Lösung haben wir auf ein agiles Vorgehen nach Scrum-Methodik gesetzt, da die technischen Herausforderungen im Vorfeld wie auch die Machbarkeit des Ansatzes schwer einzuschätzen waren. Der erste Prototyp wurde nach drei Monaten in Betrieb genommen und seitdem stetig weiter agil ausgebaut.
Ein kurzes Fazit
Das Beispiel zeigt, dass modernen Analyseszenarien – etwa aus dem Bereich KI – nicht zwangsläufig brandneue Technologien und hochkomplexe Architekturen erfordern. Vielmehr ist der Lösungsaufbau vergleichsweise einfach, aber dafür sehr effektiv. Durch die Integration in ein bestehendes Umfeld läuft die Lösung sehr stabil. Gleichzeitig hat das ganzheitliche Kundenwertmodell eine hohe Akzeptanz im Unternehmen gefunden. Es ermöglicht eine individuelle und zugleich wertorientierte Ansprache jedes einzelnen Kunden. Somit ist es zu einem festen Bestandteil in der täglichen Arbeit der Mitarbeiter in Sales, Marketing und Service geworden. Nicht zuletzt dienen die resultierenden Erkenntnisse als valide Grundlage für strategische Entscheidungen auf Managementebene.
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